Montag, 2. Februar 2015

Leichenschmaus

Er hatte mir von ihnen erzählt in einer dieser endlosen Nächte, in
denen er nach Wochen, manchmal Monaten atemlos vor meiner
Tür stand und sagte, wir müssen reden, ich weiß jetzt Bescheid.
Er hatte sie genau beschrieben, die grauenhaften Wesen, die durch
Wände seine Träume ausspähten, um ihm seine Geheimnisse und
das Leben selbst zu entreißen, und ich hatte genickt, nur genickt,
mehr konnte ich nicht tun. Du musst wach bleiben, hellwach, hatte
er gesagt, immer, sonst schnappen sie dich. Es gibt Möglichkeiten.
Ich sah in das Gesicht, das dem meinen so sehr ähnelte und es mir
unmöglich machte, ihn zu verleugnen. Und nickte. Ich wusste um
seine Methoden, schon lange. Ich hatte die meinen entwickelt, und
am Ende gewann immer der Wodka, sein Kopf sank auf die Tischplatte
und er selbst in einen Schlaf, der nur mir gnädig war, der
Verräterin.

Jetzt hatten sie ihn doch gekriegt, hatten mit ihren langen
Knochenhänden nach ihm gegriffen, ihn gerüttelt und geschüttelt
und durch die Luft gewirbelt wie eine Lumpenpuppe, den langen
Weg die Felsen hinab, und seine zerschmetterte Hülle in den Fluss
geworfen. Verschwendung, mehr konnte ich nicht denken, so jung,
so makellos der Körper, winzige Einstiche nur, die ich übersehen
hätte, doch das ließ er nicht zu. Seine Möglichkeiten, sein Triumph
über die Schatten, ich sollte sie sehen. Wir haben ihn zu den anderen
Toten gelegt, heute Vormittag. Alle schön in einer Reihe, die Gräber
wie die Trauernden, geordneter Abschied und eine letzte Schippe
Dreck hinterher. Mama hat nur zugesehen, dicht neben mir, und
geflüstert, nie mehr sehe ich ihn wieder, meinen Jungen, meinen
einzigen Sohn, und was will eigentlich die verdammte Bagage hier,
jetzt, wo es zu spät ist. Dann wurde sie zu Stein.

Sie sitzt zu meiner Rechten an der langen Tafel, reglos. Die Verwandtschaft tagt,
der offizielle Teil ist beendet, die Förmlichkeit auch, Kaffee, Schnaps
und flache Witze werden herumgereicht wie Betthupferl für den, der
fehlt. Kira hat sich seinen Platz genommen, links von mir, resolut
und kommentarlos, Aufrücken in der Geschwisterfolge, und kramt
nun in ihrer Handtasche nach dem passenden Gesichtsausdruck. Die
Kinder sind übersättigt von Kuchen und Eis, verwirrt und angewidert
von den vielen Händen auf ihren Köpfen, auf ihren schmalen
Schultern, tätschelnd, beschwichtigend, gönnerhaft, enervierend wie
eine stundenlange Liebkosung. Nur Tonja wird nicht satt, wird nie
satt, mit verstohlenem Seitenblick auf ihre schöne, schlanke Mutter
neben mir streicht sie um das Kuchenbüffet, rote Streifen, wo der
Stoff in die Haut schneidet. Nimm dir ruhig, das gibt es ja nicht jeden
Tag, gurrt Kira ihr zu, und zu mir, das Kinn leicht gereckt, Größe
hundertsechsundvierzig, völlig normal in dem Alter.


Max hat jemand im Vorbeigehen kumpelhaft über den Kopf gerubbelt,
halb im Schwitzkasten, na mein Großer, die Haare stehen
ihm immer noch zu Berge. Er steht ein bisschen abseits, allein, mit
Rückendeckung vom Fensterbrett, und sieht mit gerunzelter Stirn
zu mir herüber. Ich winke ihn zu mir, setze ihn auf meinen Schoß.
Wie geht es dir, frage ich ihn leise und streiche sein Haar glatt. Er
zuckt ganz leicht zurück, wie immer, Mundwinkel kräuseln sich
links von mir, unmerkliches Kopfschütteln, dass du mit dem nicht
mal, ich weiß ja nicht. Ich will raus, sagt er, weg, sein Blick wandert
zum Fenster zurück. Ich weiß genau, was er meint.

Onkel Paul gibt Anekdötchen zum Besten, die Wangen leicht gerötet, die lange
Strähne, die sonst seine Glatze kaschieren soll, klebt auf seiner Stirn.
Wodka, und Bluthochdruck. Stefan, ja, das war schon einer, immer
irgendeine verrückte Aktion am Laufen, lacht er und greift nach
seinem Glas. Legendenbildung ist ein Teil des Heilungsprozesses.
Der Satz schießt mir durch den Kopf wie ein fehlgeleitetes Projektil,
das muss ich wohl irgendwo gelesen haben. Ich schüttele mich
leicht und nehme Max fester in den Arm. Meinen Jungen, der nur
langsam begreift, wenn überhaupt. Dass er jetzt ohne ihn leben muss,
ohne den Einzigen, vor dem er nie zurückgezuckt ist, weil er ihn
erkannt hat, und umgekehrt. Ich begreife es ja selbst nicht. Wisst
ihr noch, wie er diesen Hund angeschleppt hat? Ein Schweißtropfen
trifft Onkel Pauls Auge, es tränt, und er blinzelt und fährt sich mit
der Hand über den kahlen Schädel. Hugo hat er das Vieh genannt,
schwadroniert er, Hugo, und Opa, haha, der ist fast ausgerastet,
sein Name für diese knochige Missgeburt von einem Hund. Voller
Flöhe und kahl wie euer Onkel Paul, nur dass man bei mir nicht
ständig das Arschloch sieht, hahaha. Allgemeines Gelächter, Paul
ist in Form, Paul hat es drauf, seine Frau hängt an seinem Gesicht
wie Hugo früher an seinem Kauknochen. Er hat ihn sogar mit ins
Bett genommen, wirft Kira ein und lächelt zufrieden in sich hinein,
Vorfreude auf den Nachschlag. Er brauchte ja viel körperliche
Nähe, unser Stefan, aber das hat er natürlich nicht jedem erzählt,
sagt sie und schiebt einen Seufzer hinterher.

Mama blickt ins Nichts, vielleicht denkt sie an die teuren Steaks, die der
Hund damals gefressen hat, als sie nicht aufgepasst hat, und an die
viele Hundekotze, die sie danach wegmachen musste, weil Stefan
das nicht konnte, einen empfindlichen Magen hatte er, genau wie
Hugo. Vielleicht denkt sie auch gar nichts, nie mehr.
Onkel Paul ist aufgestanden, wohlwollend blickt er in die Runde,
während er immer weitererzählt. Kira wirft ihm locker die Bälle hin,
die Gelegenheit ist günstig, so nahe am Zentrum der Aufmerksamkeit,
und sie ergreift sie, wirft das Haar in den Nacken, gurrt und
gluckst. Die Verwandtschaft amüsiert sich, verklärte Blicke, Köpfe
in Schräghaltung, ja, ja, der Stefan, das war ein guter Kerl. ...wie
er leibt und lebt, höre ich jemanden sagen, ein Tollpatsch vor dem
Herrn, einen anderen, und Kira, fünf Mal allein das Schlüsselbein gebrochen,
und wer hat ihn wohl… Mein Magen hebt sich ein bisschen.
Max steht der Mund leicht offen, wie gebannt hängt sein Blick an
Onkel Paul. Ein dünner Spuckefaden läuft ihm über das Kinn, ich
wische ihn mit dem Daumen weg. Zucken. Der Hund. Das Auto. Jetzt
bin ich es, die zusammenzuckt. Onkel Paul gibt alles, er ist auf der
Zielgeraden angelangt, den Arm jetzt um seine vor Charme sprühende
Assistentin gelegt, Daumen knapp unterhalb des Brustansatzes.
Stefan hinterher wie ein Irrer, und im letzten Moment. Aber dann,
er hat ihn schon, Gulli, Schnürsenkel, tragisch, aber so und nicht
anders, haha. Fällt auf den verdammten Köter drauf, und peng, aus,
mausetot! Tränen laufen ihm über die Wangen, dem Paul, unserem
Geschichtenerzähler, er schüttelt sich vor Lachen, die Daumen
wandern. Den Hund meine ich, den Hund natürlich, brüllt er, und
meine Schwester hebt mit stocksteifem Brustkorb und gewinnendem
Lächeln formvollendet ihr Glas: Prost Gemeinde!


Ich spüre Mamas Blick und denke an die Tränen, genau wie sie. An
seine Tränen, tagelang, nächtelang, in völliger Dunkelheit. An unsere
Tränen, weil nichts half, kein Wort, keine Umarmung, kein Versprechen.


Das nenne ich mal einen Leichenschmaus, keucht Onkel Paul unter
dem abebbenden Gelächter seiner Zuhörer, erhitzt von der gelungenen
Vorstellung, und lockert seine Umarmung gerade genug, Gelegenheit,
ergriffen. Kira eilt zu Tonja, die aschfahl im Gesicht ist und soeben
anhebt, sich in einen Blumenkübel zu erbrechen. Die Hitze, wisst
ihr, knurrt Kira, alles in Ordnung, und zerrt ihre Tochter in Richtung
des Badezimmers. Ich merke es nicht gleich, spüre nur eine leichte
Bewegung, das übliche Zucken, ich kriege es kaum noch mit, ist ja
normal, mein Sensibelchen. Aber Max hat den Kopf gedreht und starrt
mich an, eine steile Falte auf der kleinen Stirn, mit Stefans Augen,
diesen schönen verlorenen Augen, verdammte Familienähnlichkeit.
Was ist denn, frage ich leise, seine Hand in meiner, was hast du
denn, mein Schatz? Leichenschmaus, kommt es aus seinem Mund,
ungläubig, entsetzt, endgültig. Leichenschmaus, lauter, alle können
ihn hören. Müssen wir ihn jetzt essen?


Mir bleibt die Spucke weg. Das Lachen kommt von tief unten, vom Boden
meiner Existenz. Langsam zunächst, steigt es wie kochender Dampf durch
meine Eingeweide, hinauf bis zum Hals, immer schneller und schneller,
und ich kann nicht anders. Wie ein Strom glühender Lava ergießt sich mein
Lachen über den Tisch, über die Menschen, über Onkel Paul, der mich anstarrt,
so wie alle mich anstarren, und über meine Schwester, die aus dem
Badezimmer gestürzt ist, puren Hass in den Augen, unverhohlen jetzt.
Mein Lachen brennt ihnen die Verlogenheit aus den Gesichtern und
endlich, endlich ist sichtbar, für alle, was so lange überfällig war an
diesem dunkelsten meiner Tage: das blanke, schiere Entsetzen. Ich
lache und lache, schütte mich aus, raus, alles raus, die Vergeblichkeit,
die Ohnmacht, der Schmerz, der Wahnsinn. Ich lasse es laufen, und
Mama hält sich den Bauch und lacht mit mir.
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Donnerstag, 10. April 2014






Mondstrahl. Kalter Finger.

Malt frostige Zeichen vor mein fremdes Bett.

Und steht doch ungerührt

am gleichen Himmel

wie daheim.



(nach Li-Bai)



Endstation Sehnsucht


 

Mein Kopf ruht schwer auf fremden Kissen, das Bett ist viel zu groß. Gedanken an dich wie spitzes Geröll scheuern mir die Hirnhaut wund. Die Flasche ist leer, die letzte Zigarette geraucht, die Nordsee rauscht irgendwo da unten.

Der Mond malt mit zittrigen Fingern geheimnisvolle Zeichen auf den Boden, eiskalt wie deine Wange beim letzten Kuss. Sein blasser Strahl fährt aufreizend langsam das Balkongeländer hinter den großen Fenstern entlang, zu wenig Licht vor dem Abgrund dahinter.

Zehnter Stock, hier sind Ihre Schlüssel, hatte der junge Mann am Empfang gesagt. Und diskret den Blick gesenkt. Die Frau in Schwarz. Das bin wohl ich.


Danke, gab ich zurück, und meinte es so.


                                                                                                                         ©Sabine Bentler, 3/2014

Sonntag, 23. Februar 2014

Cerebrale Raumforderung 1



Dein Gesicht flackert wie eine Kerze vor meinen Augen, unstet, und ich frage mich, wann? Wann habe ich es zum ersten Mal gesehen. Doch, ich weiß. Du hast auf einer Bank gesessen, in irgendjemandes Keller. Schältest dich aus der Gruppe, als du mich in den Fokus nahmst. Schältest mich aus meiner Angst, meinen Schuldgefühlen, meiner schrundig gewordenen Ehe, als du mich zur Frau nahmst. Keine leichte Sache. Die Kinder, die Mütter, die Geschwister, die Kinder, die Kinder. Und du, allein auf weiter Flur: was willst du denn? Ich liebe dich.

Du meintest es ernst, und ich dachte, gut. Dann sieh selbst. Wir tanzten unseren Tanz, langsam und vorsichtig, wenn die Mütter sich in den Geweihen lagen, schneller, wenn es um die Kinder ging, um Schulnoten und Mutproben und Elfentattoos, mitten auf dem Bauch. Was, wenn sie mal schwanger wird?, fragte ich dich. Und du: Dann wächst die Elfe mit. So einfach.

Wann habe ich es zum ersten Mal gesehen? Doch, ich weiß es. Donnerstag. Irgendein Donnerstag. Du in unserer Küche, nach der Arbeit, mit dem Blick eines Kindes, forschend. Was ist los, Schatz, frage ich, und du zuckst zusammen. Wieso Schatz?

Und dann. Ärzte, Maschinen, Ärzte, immer andere, und Bilder. Dein Gehirn: Ein Sack voller Golfbälle. Prognose ganz gut, sagt einer, und ein anderer, Krampfanfälle gehören dazu. Aha.

Manchmal tauchst du auf, ganz unvermittelt, und dann muss ich schnell sein, dir alles erzählen, bevor du wieder absinkst, hinunter an den Grund. Es muss ein friedlicher Ort sein, so, wie du mich ansiehst. Oder vielleicht bin es doch ich, möglicherweise. Die das bewirkt.

Heute habe ich etwas gesehen. Etwas Unglaubliches. Ich habe ein Elfe gesehen, die mit einem Baby tanzt. Oder umgekehrt. Neues Leben schlug sanfte Wellen auf ihrer Bauchdecke, und zärtliche Stimmen flüsterten dazu. Wenn du auftauchst, werde ich dir davon erzählen. Du wirst mich für verrückt erklären. Oder nicht.

Sonntag, 1. Dezember 2013

Krieg und Frieden


Krieg und Frieden



"Krieg ist ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt,[1][2] (...) Ziel der beteiligten Kollektive ist es, ihre Interessen durchzusetzen. (...)Neben Schäden an am Krieg aktiv Beteiligten entstehen auch immer Schäden, die meist eher unbeabsichtigt sind. Sie werden heute euphemistisch als Kollateralschäden, bzw. Begleitschäden bezeichnet. (...)"    http://de.wikipedia.org/wiki/Krieg 29.11.2013

Wir liegen auf der Wiese, verborgen hinter den Stachelbeersträuchern im Alibigarten. Es ist so heiß, daß sich der Geruch der maroden Asphaltstraße am Rande der Schrebergartensiedlung mit dem süßen Aroma der dicht an dicht hängenden sonnenwarmen Beeren mischt. Träge blinzeln wir in den absurd blauen Himmel, pflücken ab und zu eine der kleinen, behaarten Früchte und werfen sie dem anderen zu, damit er sie mit dem Mund auffangen kann, was selten gelingt. Durch die Hecken dringen die Geräusche der kleinen Hochzeitsgesellschaft, der wir entflohen sind, garniert mit dem irren Gezirpe der Grillen, eine stimmige Symphonie.

Ist das nicht romantisch, sagt er zu mir, seine Stimme trieft vor Sarkasmus, wie immer. Ich sehe ihn an. Das weiße Hemd ist ihm aus dem Hosenbund gerutscht, die Krawatte liegt zerknüllt neben ihm im Gras. Wer fragt uns denn, antworte ich, schnappe mir noch eine Stachelbeere und verfehle ihn knapp. Meine Stimme klingt fast wie seine, das überrascht mich immer wieder. Wie kann man nur zweimal dieselbe Person heiraten, erwidere ich matt, aber die Frage ist nicht ernst gemeint. Er lacht abrupt auf, ein rauhes, kehliges Lachen, männlich klingt es und irgendwie alt. Ja, und die Location ist auch nicht schlecht gewählt, stellt er fest und trinkt einen Schluck.

Wir kennen uns, haben viel zusammen durchgemacht, alte Kriegskameraden, die nicht viele Worte brauchen. Ich muß grinsen. Der Schrebergarten gehört meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, den sie auf den Tod nicht ausstehen kann, und für ihn ist es heiliges Land. Hier kann er tun, wonach ihm der Sinn steht, den stumpfen, leidenden Blicken meiner Tante entzogen, die selten herkommt, weil sie praktisch mit ihrem verstellbaren Sessel verwachsen ist. In den meisten Fällen steht ihm der Sinn nach ausuferndem Konsum aller denkbaren Alkoholika. Der ausgezirkelte Gartenteich, in dem kein einziger Fisch schwimmt, die ordentlichen Gemüsereihen, die kleine Laube, in der es immer nach Sickergrube stinkt, und die damit verbundene Arbeit sind der Preis, den er für diese brüchige Freiheit zahlt, die reiche Ernte, die er mit eingezogenem Kopf nach Hause trägt, das Lösegeld. Er weiß nicht, daß wir die winzige Parzelle Alibigarten nennen, und wir werden es ihm auch nicht sagen. Das wäre zu grausam, selbst für unsere Verhältnisse.

Was macht die Kunst, frage ich ihn, um das Thema zu wechseln. Läuft, sagt er, und bei dir? Er ist der Meister der Leinwand, heiß begehrt in Künstlerkreisen, was er mit grimmiger Verachtung genießt. Seine Bilder sind riesige, wuchtige Farbexplosionen, so intensiv und gewalttätig, daß der Betrachter verstört und verletzt zurückbleibt, erleichtert, sich auf dem festen Boden der Realität wiederzufunden. Ich bin die Herrin der Worte, eine Triebtäterin auf dem Papier. Ein Kritiker hat meine Texte kürzlich mit Autopsien verglichen, und ich bin immer noch nicht sicher, ob ich das als Kompliment auffassen soll. Unsere Themen sind die gleichen, Krieg und Zerstörung, Tod und Vernichtung, im Namen von weiß der Teufel was. Wir haben sie gewählt, weil wir keine anderen kennen.
Die illustre Gesellschaft hinter den Hecken ist jetzt deutlich lauter geworden. Ich stelle sie mir vor, wie sie da sitzen, dem Anlaß angemessen, noch, mit roten Gesichtern von der Sonne und dem Dosenbier, die Frauen mit lauwarmer Limo. Ich warte auf das hohe Sirren in der Luft, das den Moment ankündigt, in dem die Stimmung kippt, die unmerkliche Verdichtung der Athmosphäre, kurz vor der ersten wütenden Anklage, und dann das Flakfeuer von allen Seiten, haßerfülltes Geschrei, zornig erhobene Finger, du, du warst es. Ich bin darauf geeicht, ich höre es vor allen anderen, ich bin der Lauschposten, der durch das Gelände schleicht, von einer Deckung zur nächsten. Das habe ich gelernt von klein auf, in den ewigen Gefechten meiner Eltern, die sich nicht einmal darauf einigen konnten, um was sie so erbittert kämpften, und deren einzige Geiseln ihre Kinder waren, mein Bruder und ich.

Jetzt fängt es an, ganz leise, ein Zittern nur, aber es kommt näher. Er hört es auch. Es geht los, sagt er und zwinkert mir zu, grinsend, dann springt er leichtfüßig auf. Ich hole uns schnell noch ein Bier, und dann setzen wir uns drüben in den Kirschbaum, von da sehen wir am besten. Ich muß lachen und sehe ihm nach, barfuß springt er durch das trockene Gras und verschwindet in der muffigen Laube. Ich lege mich zurück, halte das Gesicht in die Sonne, und freue mich. Daß ich einen guten Kameraden habe. Daß ich nicht allein bin.

So hätte es sein können. Aber er kam nicht. Wir haben ihn gefunden, im nagelneuen Schlafzimmer der Eltern, baumelnd an einem Seil, das er durch die Dachbalken gezogen hatte. Ich schätze, er wollte ihnen die Hochzeitsnacht versauen.

"Krieg ist ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt,[1][2] (...) Ziel der beteiligten Kollektive ist es, ihre Interessen durchzusetzen. (...)Neben Schäden an am Krieg aktiv Beteiligten entstehen auch immer Schäden, die meist eher unbeabsichtigt sind. Sie werden heute euphemistisch als Kollateralschäden, bzw. Begleitschäden bezeichnet. (...)"    http://de.wikipedia.org/wiki/Krieg 29.11.2013


                            ©Sabine Bentler, 29. November 2013

Dienstag, 26. November 2013

ARBEIT

Es ist ein seltsames Gefühl, das Schreiben.

Als müsstest du hundertmal

hintereinander schreiben:

Ich bin allein.

Ich bin allein.

Freitag, 22. November 2013

Nobody is perfect

Liebe Sandra,

vielen Dank für deine süßen Briefe, ich freue mich schon immer die ganze Woche darauf, von dir zu hören und von deiner Kleinen und was ihr so treibt. Die Fotos habe ich aufgehängt, neben meinem Bett, so, wie du gesagt hast, und du hattest recht, es funktioniert. Am liebsten schaue ich mir das Bild vom Spielplatz an, das, wo Chrissie auf der Schaukel sitzt und strahlt, höher, Mami, höher, scheint sie zu rufen, und ihre hübschen Zöpfe leuchten und das Röckchen fliegt, höher Mami, das kann ich mir richtig gut vorstellen, und dann bin ich auch nicht mehr so traurig.
Versteh mich nicht falsch, ich habe es nicht schlecht hier, die Leute sind echt nett zu mir, das Essen ist gut, und meine Arbeit mag ich auch. Ich meine, hey, ich mache den Job jetzt fast zwanzig Jahre, und ich bin richtig gut darin, ich lerne sogar mittlerweile die Neuen an. Aber seit ich euch beide kennengelernt habe, fühle ich mich doch manchmal einsam, du weißt schon. Es wird so schön, wenn wir endlich zusammen sein können, du und ich und Chrissie, und dann musst du auch nicht mehr traurig sein, daß dein Alter abgehauen ist, Liebling. Ich meine, du bist ohne ihn viel besser dran, das ewige Theater und dauernd irgendwelche Vorwürfe und "Bedenken", das braucht doch kein Mensch. Und zur Krönung behauptet er noch, daß es unsere Briefe gewesen sein sollen, ausgerechnet, der Typ hat doch bloß eine Ausrede gebraucht, egoistisches Arschloch. Ich würde das nie tun, meine Mädels einfach sitzen lassen, ich werde mich um euch kümmern, das meine ich ganz ernst, aber das weißt du ja.
Eine Frau wie dich findet man eben nicht alle Tage, du bist nicht wie die anderen alle. Du hörst mir zu und verstehst mich, mit dir kann ich über alles reden. Sogar als ich dir von der Sache damals erzählt habe, du weißt schon, der Sache mit Paul, da hast du nicht gleich losgeschrien und bist abgehauen. Du hast dir alles ganz ruhig angehört. Du hast nicht gesagt, welcher Paul, es gibt keinen Paul, so wie die anderen, so wie dieser Dreckspsychologe. Der will mir immer noch einreden, ich wäre es selbst gewesen, was denkt der denn, der hat ja keine Ahnung, was das für eine Sauerei war, ich meine, allein vom Zugucken ist mir schon schlecht geworden, und gequiekt hat die wie ein abgestochenes Schwein, ich kann dir sagen. Aber was sollte ich denn machen, ich meine, Paul war mein bester Freund und so, von Anfang an, immer hat er alles klargemacht für mich, hat mir Ärger vom Hals gehalten, besonders, als damals meine Mama abgehauen ist und ich mit dem Alten alleine geblieben bin auf dem Hof. Das war keine schöne Zeit, die ganze Plackerei von morgens bis abends, Michel hier und Michel da, und wehe, ich habe nicht gespurt, da gab´s dann immer gleich auf´s Maul, bis der Paul dem einen Riegel vorgeschoben und ihn mal so richtig vermöbelt hat. Ab da hat der Alte mich immer nur blöd angeguckt und sich weggeduckt, als wäre ich irgend so ein Monster, dabei war es doch Paul gewesen. Aber ich hatte meine Ruhe, und für die Arbeit hat er sich dann die Polen geholt.
 Die kamen gleich mit Kind und Kegel, und da hat Paul die Kleine zum ersten Mal gesehen, und sie war ein hübsches Ding, das muß man schon sagen. Ein zartes kleines Pflänzchen mit hübschem blondem Haar und riesigen wasserblauen Augen, aber darauf hat sie sich auch was eingebildet, rumstolziert ist sie auf dem Hof, als wäre es ihr eigener, und hat den Paul gereizt bis aufs Blut. Irgendwann ist ihm eben der Kragen geplatzt, und den Rest kennst du ja. Wie sie dann so da lag, und ihr lief es aus allen Löchern, da hat er sich auf einmal geekelt, konnte noch nie gut Blut sehen, mein Kumpel, jeder hat ja so seine Schwächen. Er war auch nie dabei, wenn wir die Schweine geschlachtet haben, mein Alter und ich, hat nie den Kessel für die Rotwurst umgerührt, das war mein Job. Aber egal, die Kleine war mausetot, soviel stand mal fest, und da liegen lassen konnten wir sie ja schlecht. Also habe ich dem Paul geholfen, was hätte ich denn machen sollen, nach allem, was er für mich getan hatte, da konnte ich ihn doch nicht hängen lassen. Wer hätte auch gedacht, daß der verdammte Häcksler durchbrennt, armdicke Äste gingen da sonst durch wie Butter, aber Knochen, keine Chance. Alle kamen sie vom Feld gerannt, wegen dem ganzen Qualm, ein Riesengeschrei war das, und da ist Paul dann abgehauen, wie gesagt, nobody is perfect. Natürlich haben sie mir die Schuld an allem gegeben, die haben gar nicht zugehört, aber ok, was sollten die auch denken, ich stand ja immer noch da wie bestellt und nicht abgeholt, neben dem qualmenden Häcksler, und unten lief die Brühe raus. Den Paul wollte plötzlich keiner je gesehen haben, nicht mal mein Alter, trotz der Abreibung, aber daran wollte  er sich plötzlich nicht mehr erinnern, hat behauptet, ich hätte ihn vertrimmt, das blöde Arschloch. Hat die ganze Zeit gejammert, ich hab´s immer gewusst, immer schon, daß mit dem was nicht stimmt, und die Polizisten haben ihm natürlich geglaubt, die kannten mich ja nicht, die haben nur einen fetten Jungen gesehen und das ganze Blut. Ich habe es denen gleich gesagt, ich wollte sie nur wegschaffen, und gevögelt habe ich die Kleine schon gar nicht, aber da haben sie mich nur angeguckt und die Gesichter verzogen und die Köpfe geschüttelt und gestöhnt, oh Gott, nicht das auch noch, oh mein Gott. Die Wahrheit hat die überhaupt nicht interessiert. Aber das habe ich dir ja alles schon erklärt, und du hast es verstanden, du liebes Ding.
Wie auch immer, es hätte schlimmer kommen können, wenn ich so darüber nachdenke. Immerhin war ich endlich weg von dem blöden Hof und den ganzen stinkenden Viechern, und den Alten war ich auch los, hat sich nie mehr blicken lassen, und dann ist er an einem Herzinfarkt verreckt, kurz nach dem Prozess, geschieht ihm recht. Hier haben sie sich immer gut um mich gekümmert, bis auf das Kinderschändergerede, das nervt schon, aber man gewöhnt sich daran, ich weiß ja, wie es wirklich war.  Ich habe eine Menge gelernt hier, lesen und schreiben und rechnen und einen richtigen Beruf, von wegen Mistschaufeln, wer bin ich denn.
Ja, und dann kamst du, mit deiner kleinen weißen Bibel in der Hand und deinem süßen Lächeln, und es war gleich um mich geschehen. Du hast mir von Gott erzählt und den Engeln, und daß einem alles vergeben wird, wenn man nur aufrichtig bereut, das hat mir gefallen, und daran habe ich mich gehalten, und habe alles bereut: daß ich einfach zugeguckt und nichts gesagt habe, als Paul sich die Kleine geschnappt hat, auch wenn ich damals nicht wusste, daß sie noch keine zehn war. Das Schmierestehen. Und die Sache mit dem Häcksler war natürlich auch nicht in Ordnung, obwohl sie ja sowieso schon tot war und nichts mehr gespürt hat. Daß ich Paul hinterher verraten habe, tut mir nicht leid, ich meine, was Recht ist, muß Recht bleiben, da gibt es kein Vertun. Hat mir sowieso keiner geglaubt, und deswegen haben sie ihn auch nicht gekriegt, aber das ist nicht mein Problem. Ich bin nur froh, daß du mir glaubst, das ist alles, was zählt.
Später hast du mir dann ein Bild von deiner Kleinen gezeigt, von Chrissie, und da war es gleich wieder um mich geschehen. Du hast mir erzählt, daß sie schon in die zweite Klasse geht und lauter gute Noten schreibt, und das sie immer artig ist und folgt, wenn man ihr etwas sagt. Nicht so, wie das kleine Luder damals, habe ich bei mir gedacht, aber das habe ich natürlich nicht gesagt, ich weiß, du magst solche Reden nicht. Dann hast du mich ganz ernst angeschaut und gesagt, wenn das jemand mit ihr machen würde, sie packen und vergewaltigen. Ganz heiß ist mir geworden bei dem Gedanken, bei der Vorstellung, richtig gezittert habe ich. Wenn ihr jemand auch nur ein Haar krümmt, den bringe ich um, habe ich dir versprochen, selbst wenn es Paul wäre, und bei Gott, das meine ich auch so.
Aber ich habe ja sowieso nie wieder etwas von ihm gehört seit damals. Ich hoffe, es geht ihm gut, trotz allem. Weißt du, wir waren noch so jung und woher sollten wir denn wissen, daß man vom Ficken sterben kann, vom Beischlaf, meine ich, entschuldige. Wahrscheinlich war es sogar sein erstes Mal, und da geht fast immer was schief, habe ich jedenfalls gehört.
Aber genug davon, jetzt müssen wir an die Zukunft denken und die Vergangenheit hinter uns lassen, wie du gesagt hast. Ich bin ein erwachsener Mann, der eine Familie zu versorgen hat, auf mich muss bestimmt keiner mehr aufpassen. Mein Anwalt hat gesagt, spätestens nächsten Monat bin ich hier raus, die Sicherungsverwahrung kriegen die nie durch, so gut, wie ich mich entwickelt habe, und außerdem gibt es ja noch das psychologische Gutachten, und das ist bombensicher, da gibt es nichts dran zu rütteln.
Mein Liebling, warte es nur ab, ich werde gut für euch sorgen, und wir werden den ganzen Mist vergessen, auch wenn mir der Laden hier bestimmt manchmal fehlen wird, Macht der Gewohnheit. Und an Paul werde ich auch nicht mehr denken, das verspreche ich dir, auch wenn ich ab und zu das komische Gefühl habe, er sieht mich an, aus dem Spiegel, beim Rasieren. Das hört sich verrückt an, ich weiß. Aber du hast mir ja erklärt, das kommt von der Einsamkeit in der Zelle, das passiert vielen, daß sie Sachen sehen, die überhaupt nicht da sind, auch, wenn sie ganz real erscheinen.  Aber das ist jetzt bald vorbei. Dann komme ich endlich zu euch nach Hause und werde nie mehr einsam sein. Gott sei Dank.

In Liebe und ewiger Dankbarkeit

Dein Michel



                            ©Sabine Bentler, September 2013

Haus im Sturm

Ich bin mit Mama und Papa im Wohnzimmer, heute ist Sylvester, heute feiern wir, hat Papa gesagt und zwei Flaschen in den Kühlschrank gelegt. Ich bin schon zwölf, ich darf aufbleiben, das erste Mal ganz bis Mitternacht, die Kleinen liegen schon im Bett. Mama hat ihre Wolldecke geholt und sich Kaffee gekocht, Papas Hemd hängt in der Küche über einer Stuhllehne, zu warm, wie immer, und ich kann seine Tätowierungen sehen, die ganzen Arme hat er voll davon, kleine Schiffe segeln bis runter zu den Handgelenken, Papa war mal Seemann, glaube ich.
 Ich liege in meinem neuen Nachthemd mit den kleinen Streublümchen unterm Weihnachtsbaum, schön bunt macht ihn Mama immer, mit Lametta und allem, und lese in dem Buch, das ich mir geholt habe in der Kinderbücherei bei Frau Tauber, die ich mag und die graue Haare hat und fast die gleiche Brille wie ich. Der Zauberer von Oz, Oz, das ist doch kein Wort, hat Papa gesagt, wenn du alt genug bist, liest du Konsalik, so wie ich, das ist was Genaues. Aber mir gefällt mein Buch, gleich von Anfang an ist richtig was los, ein mächtiger Sturm reißt ein ganzes Haus aus dem Boden und trägt es sonstwohin, und das Mädchen in dem Haus, Dorothy heißt sie, hat fast gar keine Angst, das finde ich gut. Ich trinke einen Schluck von meinem Saft, der kein richtiger Saft ist, irgendwas mit  Fruchtsaftkonzentrat steht auf der Packung, zuviel Vitamin C ist nicht gut, hat Mama irgendwo gelesen, und billiger ist er auch noch.
Im Fernsehen geht jetzt unsere Sendung los, eine Menge Frauen in hübschen Badeanzügen und Strumpfhosen läuft auf die Bühne, und sie werfen im Takt ihre Beine in die Luft, damit man ihre silbernen Schuhe gut sehen kann. Meine Beine sind kalt, das Nachthemd ist ein bißchen zu kurz, gibt ja nichts in deiner Größe, sagt Mama immer, und Papa nennt mich seinen Storch im Salat, langes Laster, langes Elend. Ich schiele zu Mama, die wie immer auf ihren Beinen draufsitzt, damit sie schön warm bleiben, und wenn ich die Augen zusammenkneife, sieht es so aus, als hätte sie gar keine, als könnte sie gar nicht weg, aber das ist natürlich Quatsch. Mama erzählt allen Leuten, hundertsechsundvierzig hatte sie schon bei der Einschulung, damit meint sie mich, ich bin ganz schön groß, sogar größer als die Jungs in meiner Klasse. Meiner Tante hat sie es sogar schon ein paar Mal erklärt, so, als könnte die es gar nicht glauben, auch das mit dem Lesen hat sie ihr erklärt, und daß sie sogar schon mit mir beim Arzt war, alles in Ordnung, kommt schon mal vor, hat der gesagt, und meine Tante, das mit der Leserei, oder was.
Draußen vor der Terrassentür glitzert der Boden in der Dunkelheit, als hätte ihn jemand mit Zucker überzogen, da, wo mal die Terrasse hinkommt, im Frühjahr, wir sind gerade erst eingezogen, das Neubaugebiet, sagt Mama und strahlt, wenn sie jemand fragt. Von den Putzstellen, zu denen sie mich manchmal mitnimmt, sagt sie nichts. Bis jetzt sieht man draußen nur ein großes, braunes Stück Erde mit Löchern und Furchen und tiefen Spuren, dort, wo die Bagger langgefahren sind, da ist Platz für viele Terrassen, aber die Straßenlaternen sind schon da, auch wenn die Kabel noch raushängen. Ich stelle mir vor, sie machen sie gelb, unsere Terrasse, aus gelben Ziegelsteinen, wie den Weg, auf dem Dorothy jetzt unterwegs ist, in silbernen Schuhen, wie die Frauen im Fernsehen. Ihr Haus ist nämlich inzwischen gelandet, in einem Land namens Kansas, glaube ich, und es laufen eine Menge verrückter Leute dort herum, aber vielleicht verwechsele ich auch etwas, lesen und fernsehen gleichzeitig ist ziemlich anstrengend.
Der Ansager macht jetzt einen Witz, den ich nicht verstehe, über die tanzenden Frauen, glaube ich, und Papa lacht laut los und trinkt einen Schluck aus seinem Glas, dem guten mit dem dicken, grünen Fuß und den goldenen Weintrauben. Mama lacht nicht, sie verzieht nur das Gesicht ein bißchen und macht sich eine Zigarette an, und Papa guckt zu ihr rüber und hört auf zu lachen, ja, sagt er, komm, wir rauchen eine. Ihre Aschenbecher sehen genau gleich aus und stehen wie immer auf den breiten Holzlehnen ihrer Sessel, die Sofagarnitur haben wir von Oma, aber ich mag sie nicht, zu unbequem. Papas Ascher steht links von ihm, er ist Linkshänder. Das haben sie mir nicht ausgetrieben, habe ich ihn mal sagen hören, nicht mit mir, und Mama hat nur komisch geschnaubt und gemeint, ein echter Held bist du.
Im Fernsehen machen sie jetzt Pause, und Mama steht auf und holt sich noch einen Kaffee aus der Küche. Bring die andere Flasche mit, ruft Papa ihr hinterher, aber sie hört ihn nicht, und ich springe auf und hole sie ihm, auch den Korkenzieher, und ich öffne die Flasche, wie er es mir gezeigt hat. Es geht schwer, aber ich schaffe es, und Papa lobt mich und sagt, ein schlaues Mädchen haben wir da, aus dir wird mal was, und ich freue mich, aber ich sehe Mama dabei nicht an, und dann prosten wir beide uns zu, wie bei einer echten Feier, nur Mama lässt ihre Tasse auf der Sessellehne stehen.
Papa hat schon richtig gute Laune, manchmal brummt er ein bißchen mit der Musik, und er redet mit Mama und erzählt von früher, weißt du noch, sagt er, weißt du noch damals, und Mama nickt und sagt, ja, ich weiß, und dann lächelt sie auch ein bißchen.
Plötzlich steht Papa aus seinem Sessel auf, ein bißchen zu schnell, er schwankt ganz leicht, der verdammte Fuß, grummelt er, und Mama, der Fuß, na klar, das wird es sein. Er dreht den Fernseher lauter, denn jetzt kommt sein Lieblingssänger, ein riesiger Kerl mit einem Nikolausbart und einem breiten Gürtel um den dicken Bauch, ha, dröhnt Papa, der da ist Russe, das ist ein Kerl, das ist ein Kumpel, aber ich weiß, er kennt ihn gar nicht richtig, nicht wie Onkel Dietmar aus dem Getränkeshop, wo Papa vormittags hingeht, wenn Mama putzen ist. Oh Mann, und singen kann der, das ist die russische Seele, sagt Papa, und er steht immer noch da und hört sich das Lied von einem Soldaten an der Wolga an, der auf irgend etwas wartet, und ein bisschen sieht er auch so aus, als würde er auf etwas warten, dringend sogar, denn seine Augen werden ganz rot, und Mama sagt, mach nicht so laut, denk an die Nachbarn. Scheiß auf die Nachbarn, brüllt Papa da plötzlich, ich kenn das Pack nicht mal, und ich kriege einen Schreck, und Mama sagt, mach halblang, und sieht Papa böse an.
Dann sieht sie mich an, und ihr Gesicht wird weicher. Sie gibt mir das Zeichen, ganz leicht klopft sie mit ihrer Hand mit den dicken blauen Adern auf ihre Sessellehne, und ich setze mich zu ihr und lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Soll ich dir was verraten, flüstert sie mir ins Ohr, der da im Fernsehen, das ist gar kein Russe, das weiß jeder, außer dem da, und damit meint sie Papa, und ich linse schnell zu ihm rüber, doch zum Glück hat er nichts gehört. Dann gibt sie mir einen von unseren Nur-wir-beide-du-und-ich-Kuß auf die Wange, das ist schön, ich bin froh, daß die Kleinen schon im Bett sind.
Als ich wieder zum Fernseher schaue, steht Papa plötzlich vor mir und zieht mich auf die Füße, denn das traurige Lied ist vorbei, und jetzt kommt ein schnelles, und Papa wirbelt mich im Kreis. Er ist anscheinend gar nicht mehr sauer auf die Nachbarn, da müsste er auch auf ganz schön viele sauer sein, neunundvierzig wohnen allein in unserem Haus, ich habe sie durchgezählt, das mache ich gerne, zählen, und in den anderen Häusern wohnen noch viel mehr. Wir drehen uns weiter und weiter, Kalinka, Kalinka, brüllt Papa, und dann verschränkt er die Arme vor der Brust und geht in die Hocke und tanzt wie ein richtiger Russe, immer ein Bein vor und zurück.
Ich habe mein Buch ganz vergessen, ich habe richtig viel Spaß, jetzt ist es wirklich eine echte Feier, denke ich und springe und hüpfe um Papa herum. Leider ist so ein Russentanz nicht ganz einfach, und plötzlich kommt Papa ins Trudeln und fängt an, wild mit den Armen zu rudern, um nicht hinzufallen, und dabei erwischt er Mamas Kaffetasse, und ich sehe, wie die Tasse abhebt, die hab ich Mama geschenkt zu Weihnachten von meinem gesparten Geld, die größte und schönste und schwerste, die ich finden konnte, und sie fliegt genau auf mich zu.
Alles geht plötzlich ganz langsam, als hätte jemand die Zeit von hinten am Hemd gepackt und mitten im Lauf gestoppt. Wie der Kaffee aus der Tasse schwappt, eine glänzende, dunkelbraune Wolke, wie Papa mit beiden Händen in die Luft greift, Mamas Wolldecke, die von ihrem Sessel segelt, und sie, halb im Sprung, den Mund zu einem großen O aufgerissen, alles wie in Zeitlupe. Und dann spüre ich den Kaffee auf der Haut, ein heißer Schwall läuft über meine Brust bis runter zu meinem Bauch, und mitten im Fallen denke ich, mein schönes Nachthemd, ob das noch mal rausgeht.  Papas Hände greifen an mir vorbei, aber die Kante vom Wohnzimmertisch fängt mich auf, und es tut gar nicht weh, nur ein kleines Knacken höre ich, von irgendwo hinter meinen Ohren. Und dann reisst die Zeit sich wieder los, wie ein Haus im Sturm, und ich darf als Einzige mit.


                                ©Sabine Bentler, September 2013